Südafrika: Republik im Umbruch

Südafrika: Republik im Umbruch
Südafrika: Republik im Umbruch
 
Die ersten allgemeinen freien Wahlen in Südafrika vom 26. bis 28. April 1994 beendeten den Übergangsprozess, der vier Jahre zuvor, am 2. Februar 1990 eingesetzt hatte. Damals hatte Staatspräsident Frederik Willem de Klerk während seiner Rede zur Parlamentseröffnung die Wiederzulassung des African National Congress (ANC), des Pan-African Congress (PAC) und der Kommunistischen Partei sowie die Freilassung von Nelson Mandela aus 27-jähriger Haft angekündigt. Freilich kam diese entscheidende Wende in der Politik der seit 1948 regierenden National Party (NP) nicht aus heiterem Himmel, sondern sie hatte weiter zurückliegende, strukturelle Ursachen.
 
 Das Scheitern einer Reformierung der Apartheid
 
Pieter Willem Botha, 1978 bis 1984 Premierminister und aufgrund der neuen Verfassung 1984 bis 1989 Staatspräsident Südafrikas, hatte das Land mit seiner gescheiterten Politik der »totalen Strategie« — einer Mischung aus Zugeständnissen, ökonomischen Entwicklungsprojekten und polizeistaatlicher Repression — immer tiefer in die Krise getrieben. Seit 1986 galt der Ausnahmezustand in ganz Südafrika. Gewerkschaften und die seit 1983 im Dachverband United Democratic Front (UDF) zusammengeschlossenen Widerstandsorganisationen übten auf allen Ebenen Druck aus. Die von Sicherheitskräften häufig geschürten Kämpfe zwischen verschiedenen Organisationen lenkten zwar mancherorts vielleicht den Druck vom Regime selbst ab, doch trugen sie in nicht unerheblichem Maß zur Verschärfung der Krise bei, insbesondere im Bereich der Wirtschaft. Die Provinz Natal, in der sich die Inkatha-Organisation des Homelandführers Chief Gatsha Mongosuthu Buthelezi und Bürgerrechtsorganisationen wie die UDF einen immer härteren und blutigeren Krieg lieferten, wurde zuletzt faktisch unregierbar.
 
Die permanenten Polizei- und Militäreinsätze und der seit Jahren dauernde Krieg in Angola kosteten Unsummen an Geld, das Botha ursprünglich für die Zuckerbrotseite seiner Politik, nämlich die wirtschaftliche Entwicklung, vorgesehen hatte. Seit 1985 hatte Südafrika mit einer Überschuldung zu kämpfen, letztlich aber machte derjenige Wirtschaftszweig der Apartheid den Garaus, der sie früher erst richtig zum Florieren gebracht hatte: der Goldbergbau. Seit der Mitte der Siebzigerjahre verfielen die Weltmarktpreise für Gold; nach einem kurzen Aufschwung zu Beginn der Achtzigerjahre verschärfte sich dieser Abwärtstrend in einem solchen Maß, dass etliche Goldminen entweder schließen mussten oder von der Schließung bedroht waren. Das führte zu massiven Steuerausfällen für einen Staat, der immer mehr Geld für seinen überdimensionierten Sicherheitsapparat und eine schwerfällige Bürokratie ausgab. Zudem begannen die vom Westen sehr zögerlich verhängten Teilsanktionen allmählich zu wirken, gemeinsam mit Konsumentenboykotts und Streikbewegungen im Land selbst.
 
Doch Botha war nur zu Teilzugeständnissen, nicht aber zur vollständigen Abschaffung der Apartheid bereit. Die Abschaffung einzelner Apartheidgesetze nützte jedoch nicht mehr viel, zumal es sich mit Ausnahme der 1987 gestrichenen Passgesetze um solche Maßnahmen handelte, die zwar besonders rassistisch waren wie das Mischehenverbot, deren Streichung aber die unmittelbaren Lebensumstände der Mehrheit der Bevölkerung kaum betraf. Die afrikaanse Wirtschaftsbourgeoisie, die sich seit den Sechzigerjahren etabliert hatte, orientierte sich zunehmend an ökonomischen Effizienzkriterien und scherte sich nur noch wenig um überkommene Vorstellungen von Rassenherrschaft und um afrikaansen Kulturnationalismus.
 
Der Niedergang der Wirtschaft, das Verschwinden des kommunistischen Angstgegners infolge der Perestroika und militärische Niederlagen in Angola gaben den Ausschlag: Der gesundheitlich angeschlagene Botha trat im Januar 1989 als Parteichef zurück, unter den Bewerbern um seine Nachfolge setzte sich der konservativste, Frederik Willem de Klerk, durch, der aber gerade darum am ehesten die Partei geschlossen hinter sich bringen konnte und Botha im August auch als Präsident ablöste. Nach einer Parlamentswahl im September, die der NP Verluste zugunsten der rechtsnationalistischen Conservative Party eingebracht hatte, begann de Klerk zunächst noch sehr behutsam, sein Reformprogramm umzusetzen. Im Februar 1990 holte er schließlich zum großen Befreiungsschlag aus.
 
 Die Abschaffung der Apartheid
 
Es sollte auch ein Befreiungsschlag für die NP selbst sein. Auch wenn das Kalkül de Klerks und seiner Mitarbeiter noch nicht in allen Einzelheiten bekannt ist, so viel ist gewiss: Sie waren keineswegs gewillt, dem ANC die Macht zu übergeben; sie wollten zwar die Rassengesetzgebung über Bord werfen, aber keineswegs die soziale Stellung der Weißen schwächen. Sie strebten ein System von ethnisch-kulturellen Gruppenrechten an, um das Prinzip one person — one vote zu verhindern. All diese Ziele haben sie nicht erreicht. Die hartgesottenen Politprofis der NP fanden in Nelson Mandela, Cyril Ramaphosa, Joe Slovo und den übrigen Mitgliedern des ANC-Verhandlungsteams ihre Meister. Sie waren deshalb so erfolgreich, weil sie den Druck der Straße ins Spiel brachten.
 
Der ANC setzte sich letztlich in allen wesentlichen Punkten durch, auch wenn er zahlreiche Konzessionen, etwa was die föderale Gliederung eines künftigen Südafrika betraf, machen musste. Die Föderalisierung Südafrikas orientiert sich nicht an ethnischen Kriterien und den früheren Homelands und bietet Chancen für eine weiter reichende Demokratisierung. Selbst der Mord an Chris Hani, Chef des bewaffneten Flügels des ANC, durch weiße Rechtsextremisten am 10. April 1993 konnte den Friedensprozess nicht mehr aufhalten. Während dieser ganzen Zeit strich die von der NP geführte Regierung die von ihren eigenen Vorgängern eingeführten Apartheidgesetze eines nach dem anderen, bis schließlich mit dem Population Registration Act, aufgrund dessen die Bevölkerung rassisch klassifiziert worden war, eines der wichtigsten Fundamente zerstört wurde. Ende 1993 wurde eine Übergangsverfassung verabschiedet, und im April 1994 gingen alle Seiten — mit sehr gemischten Gefühlen wegen der Sicherheitslage — in die Vorbereitungen zur ersten allgemeinen freien Wahl in Südafrika. In letzter Minute gelang es sogar noch, Buthelezi und seine mittlerweile zur Partei umgewandelte Inkatha-Organisation zur Teilnahme an den Wahlen zu gewinnen.
 
 Südafrika seit 1994
 
Die Anwesenheit zahlreicher internationaler Politiker bei der feierlichen Einführung Mandelas in sein Amt als erster von der gesamten Bevölkerung frei gewählter Präsident signalisierte, dass Südafrika, jahrzehntelang der Paria der Weltgemeinschaft, in diese zurückkehrte. Diese Rückkehr wurde kurze Zeit darauf auch institutionell besiegelt, als Südafrika in die Organisation für afrikanische Einheit (OAU) aufgenommen wurde. Ebenso trat es dem Commonwealth wieder bei, aus dem es der damalige Premierminister Hendrik Frensch Verwoerd 1961 herausgeführt hatte. Damit zeichnete sich auch ab, dass Südafrika als ökonomische Vormacht auf dem afrikanischen Kontinent früher oder später sein außenpolitisches Gewicht entfalten würde. In der Tat trug die Regierung unter Präsident Mandela zur Beendigung des Bürgerkriegs in Moçambique bei, setzte sich für ein Ende der Feindseligkeiten in Angola ein, bemühte sich um eine demokratische Öffnung in Swaziland und spielte eine wichtige Rolle bei den Bestrebungen um ein Ende der Mobutu-Herrschaft in Zaire. Neben diesem Engagement für Frieden und Demokratie ist Südafrika aber auch verstärkt auf den internationalen Waffenmärkten präsent, da viele Arbeitsplätze von einer florierenden Waffenindustrie abhängen, deren Blüte wiederum ein unbeabsichtigtes Ergebnis des gegen den Apartheidstaat verhängten Embargos war. Ökonomisches Kalkül dürfte überhaupt die neue südafrikanische Außenpolitik in der Region bestimmen: Die Erkenntnis, dass Afrika sich nur durch wirtschaftliche Kooperation aus der Stagnation befreien kann, bestimmt auch die Beteiligung an regionalen Wirtschaftszusammenschlüssen, wobei Südafrika wegen seiner Wirtschaftskraft geradezu zwangsläufig eine Führungsrolle zufallen wird.
 
Die wirtschaftliche und soziale Misere als Erbe der Apartheid
 
Auch wenn die manchmal vorgebrachte Behauptung, die Apartheid sei nur Instrument kapitalistischer Ausbeutung gewesen, sicher zu weit geht, so ist doch nicht von der Hand zu weisen, dass die Nachfrage nach Arbeitskräften Wirtschaft und Politik des Landes über viele Jahrzehnte in einem entscheidenden Maß geprägt hat. Die repressive Form der Bereitstellung billiger Arbeitskräfte schuf Belastungen, die sich nur langsam, vielleicht nur über Generationen hinweg vermindern lassen. Als schwere Hypotheken der Vergangenheit prägen sie die Wirtschaft, die Reichtums- und Chancenverteilung, die Infrastruktur, aber auch Bildung und Mentalitäten. Voraussetzung für die Bereitstellung billiger Arbeitskräfte war die Ausschaltung aller Alternativen der Reichtums- und Wohlstandserzeugung für die schwarze Bevölkerung. Eine konkurrenzfähige, marktorientierte Landwirtschaft der afrikanischen Bevölkerung wurde durch die Landgesetze ab 1913 verhindert. Auch in anderen Sektoren der Wirtschaft blieben der Zugang zu Kapital und die rechtlichen Rahmenbedingungen einseitig zugunsten der Weißen ausgerichtet.
 
Zwar hat Südafrika im internationalen Vergleich ein hohes durchschnittliches Pro-Kopf-Einkommen (3010 Dollar im Jahr 1994); es unterscheidet sich aber von vergleichbaren Ländern durch die extremen Disparitäten der Reichtumsverteilung. Die Apartheid diente der Aufrechterhaltung einer Privilegiengesellschaft, in der den Weißen alle Mittel zur Verfügung standen, um ihre Stellung zu halten, während die übergroße Mehrheit der schwarzen Bevölkerung erheblich ärmer war und dafür gesorgt wurde, dass sie es blieb. Gleichzeitig entstand über die Homelandpolitik und die ungleiche Industrialisierung des Landes sowie durch die in die weiße Wirtschaft fließenden offenen und versteckten Subventionen auch ein krasses regionales Gefälle. Als seit Anfang der Siebzigerjahre die Einkommen für diejenigen Schwarzen, die in den Städten Arbeit hatten, allmählich stiegen, nahmen diese Differenzen noch erheblich zu, da die Homelands immer schneller verarmten. So sind heute vor allem zwei Provinzen, nämlich der kaum urbanisierte Norden und das Eastern Cape, zu dem die früheren Homelands Ciskei und Transkei zählen, die ärmsten Regionen des Landes; im Eastern Cape sind über 50 Prozent der Bevölkerung arbeitslos oder unterbeschäftigt. Demgegenüber gelten in der kleinen Provinz Gauteng, die die industriellen Zentren um Pretoria, Johannesburg und Vereeniging umfasst, nur 6 Prozent der Bevölkerung als extrem arm.
 
Mängel in der Infrastruktur
 
Vorsicht ist auch geboten beim Lob der südafrikanischen Infrastruktur, denn sie ist regional und qualitativ hochgradig ungleich verteilt. Die Eisenbahnen und Straßen sind noch immer primär auf die Industriezentren ausgerichtet. In den ländlichen Gebieten, vor allem in den früheren Homelands, fehlen sie entweder völlig oder ihre Qualität und die Dichte ihrer Netze nimmt erheblich ab. Ähnliches gilt für Telekommunikation und Elektrizität, wovon auch in den Städten in erster Linie die Weißen profitieren.
 
Besonders dringend ist Abhilfe geboten im Bereich der Bildungsmisere, wofür allerdings nach 1994 sehr rasch die rechtlichen Weichen gestellt wurden. Bis zum Ende der Achtzigerjahre waren die staatlichen Ausgaben im Bildungssektor für Weiße und Schwarze von einer krassen Unterschiedlichkeit, die erst mühsam beseitigt werden muss. Durch die jahrelangen Boykotts der Schulen, die der Apartheidstaat im System der Bantu education eingerichtet hatte, ist während der Achtzigerjahre eine ganze Generation gewissermaßen aus dem Bildungswesen hinauskatapultiert worden, sodass man schon von einer »verlorenen Generation« spricht. Südafrikas Bevölkerung insgesamt fehlt das gleichmäßige hochkulturelle Bildungsniveau, das Voraussetzung und Begleiterscheinung der Modernisierung ist. Durch ihr wesentlich homogeneres Bildungsniveau haben Länder wie Malaysia, Thailand oder Taiwan zusätzliche Wettbewerbsvorteile gegenüber Südafrika im Werben um Investoren. Vielfach fand Ausbildung in Südafrika am Arbeitsplatz statt, als learning by doing. Doch so positiv eine praxisorientierte Einweisung sein mag, kann dergleichen doch nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich dabei wesentlich um ein selektives Lernen handelt, das die Mobilität der Arbeitskräfte erheblich beeinträchtigt.
 
Problemfelder Bürokratie und Wirtschaft
 
Ein weiteres Entwicklungshemmnis ist die Apartheid-Bürokratie. Aus innenpolitischen Gründen musste die Regierung Mandela allen staatlichen Angestellten ihre Weiterbeschäftigung garantieren. Der riesige bürokratische Wasserkopf des Apartheidstaates, in dem es die meisten Dienststellen gleich viermal gab — für jede Rasse eine — muss grundlegend umstrukturiert werden, müsste auch dringend reduziert und personell erneuert werden. Hier rächt sich jetzt das über Jahrzehnte praktizierte Auswahlverfahren nach der Hautfarbe statt nach der Leistung, denn die südafrikanische Bürokratie ist nach wie vor in vielen Bereichen unflexibel und schwerfällig. Wie der Staatsapparat nicht unbedingt nach Kriterien der Effizienz organisiert war, so muss Ähnliches auch von Teilen des privaten Wirtschaftssektors gesagt werden. Über Jahrzehnte hinweg war Innovationsbereitschaft nur wenig gefragt, da der Binnenmarkt wegen der verbreiteten Armut nicht weiter wuchs. Zudem war und ist er von einigen riesigen Monopolunternehmen beherrscht; die Konkurrenz, aber auch die Expansionsmöglichkeiten fehlten. Die Isolation Südafrikas hielt das Land weitgehend vom Konkurrenzbetrieb der Weltmärkte fern, sodass südafrikanische Manager im internationalen Vergleich als schwerfällig und langsam gelten, weil sie an abgeschottete, geradezu planwirtschaftlich aufgeteilte Absatzmärkte gewöhnt waren. Zudem waren die zahlreichen staatlichen Eingriffe, etwa das Subventionsunwesen in der weißen Landwirtschaft, nicht dazu angetan, persönliche Initiative und Innovationsbereitschaft zu fördern.
 
Wegen des künstlich begrenzt gehaltenen Binnenmarktes blieb Südafrika weiterhin auf Rohstoffexporte als Hauptdevisenbringer verwiesen. Die Apartheid wurde mit dem Gold finanziert, das heute nicht mehr vorhanden ist, um die Reformen zu bezahlen. Mit gutem Grund lässt sich der dramatische Verfall der Goldpreise in den Achtzigerjahren als eine der wesentlichen Ursachen für den Kollaps des Apartheidstaates anführen. Die Einsicht, die Wirtschaft auf eine exportorientierte Industrie umstellen zu müssen, war eines der Hauptmotive des burischen Establishments um de Klerk, das Risiko von Verhandlungen einzugehen.
 
Südafrika sucht heute verzweifelt nach Investoren in arbeitsintensive Industrien, um neue Arbeitsplätze zu schaffen. Die Arbeitslosenquote hat in vielen Regionen an die 40 Prozent erreicht und ist in den Jahren der politischen Wende teilweise noch weiter gestiegen. Allein in der Textilindustrie gingen in den frühen Neunzigerjahren nach dem Wegfall der Schutzzölle auf Billigimporte an die 25000 Arbeitsplätze verloren. Gleichzeitig steigen die Löhne, was aus der Sicht der Arbeiter zwar vorteilhaft ist, die Attraktivität Südafrikas als Billiglohnland aber unterläuft. Die Entstehung einer Schattenwirtschaft seit den Achtzigerjahren ist ein typisches Zeichen für eine produktionsschwache Ökonomie, in der immer mehr Zwischenhändler sich zwischen Produzent bzw. Importeur und Konsument schieben, um aus minimalen Gewinnspannen ihre marginale Existenz zu sichern. Nach 1993 erholte sich zwischenzeitlich die Wirtschaft, nach einem Negativwachstum betrug die Zunahme des Bruttosozialprodukts etwa 3,5 Prozent, aber ohne dass dadurch eine spürbare Entlastung auf dem Arbeitsmarkt erfolgt wäre. Denn die Neuinvestitionen führen eher in Ausnahmefällen zur Errichtung arbeitsintensiver Produktionsstätten und damit zu neuen Arbeitsplätzen.
 
 Die Demokratisierung Südafrikas
 
Gegenüber dieser schweren Last der Vergangenheit hat die südafrikanische Gesellschaft aber auch auf der Habenseite einiges zu bieten. Hier sollen nur drei wesentliche Punkte genannt werden: die Bevölkerung selbst, der Reformwillen der Regierung und die Rolle einer kritischen Öffentlichkeit. Die Bevölkerung Südafrikas — dies gilt in besonderem Maß für die Armen — musste, da sie von staatlicher Seite selten Gutes, sicher aber keine Unterstützung zu erwarten hatte, sich auf die eigenen Kräfte verlassen. Die Apartheid hat in den Townships eine Kultur der Selbsthilfe und der Kooperation hervorgerufen. Hinsichtlich des Wohnungsbaus wurde im Jahr 1996 diskutiert, ob man tatsächlich an dem illusorischen Vorhaben festhalten solle, 300000 Wohnungen pro Jahr fertig zu stellen, oder ob es nicht viel realistischer sei, die Voraussetzungen, nämlich Bauland, für die Eigeninitiative bereitzustellen. Umfragen, die von der Universität des Witwatersrand 1995, ein Jahr nach der Wahl, durchgeführt wurden, ergaben, dass die überwiegende Mehrheit der schwarzen Bevölkerung gerade nicht, wie die konservative Presse mit einer gewissen Häme immer wieder suggerierte, ungeduldig auf schnelle Veränderungen drängte, dass gar ein Radikalisierungsschub drohte.
 
Südafrika hat eine Regierung, die es mit ihren Reformen ernst meint. Die Regierungspartei ANC hat parteiinterne Kontrollinstanzen geschaffen, die Amtsmissbrauch und Korruption verhindern sollen. Das bislang an Reformen Erreichte kündet vom Willen der Regierung, die ungleiche Verteilung von Reichtum und Chancen so weit wie möglich abzubauen. Die Lernfähigkeit der Regierung Mandela manifestierte sich nicht nur im schnellen Abschied von illusorischen Sozialisierungsvorhaben, die der ANC vor 1990 gepredigt hatte, sondern auch in der Bereitschaft, staatlichen Dirigismus mit Blick auf die Kosten so weit wie möglich zu beschränken. Das Wiederaufbau- und Entwicklungsprogramm, das unter Federführung des ANC noch vor den Wahlen von 1994 entstanden ist und als zentrale Richtlinie für die Reformen gilt, legt sehr viel Wert darauf, staatliche Eingriffe so zu dosieren, dass sie einen höchstmöglichen Effekt haben. In der Regel soll es sich nur um Initialzündungen, Anschubfinanzierungen, Bereitstellung rechtlicher Rahmenbedingungen handeln, um schlummernde wirtschaftliche Eigenkräfte freizusetzen. Die Regierung Mandela hat sich bewusst Zeit gelassen, um die Rahmenbedingungen zu schaffen, die Bürokratien umzustrukturieren, wofür sie aus Wirtschaftskreisen viel Lob erhielt. Sie hat es vermieden, in populistischer Kurzsichtigkeit den verbliebenen Reichtum des Landes nach dem Gießkannenprinzip zu vergeuden.
 
 
Die Stärke einer Demokratie lässt sich an der Stärke der Opposition messen. Wenn es nach dieser Binsenweisheit geht, sind Befürchtungen hinsichtlich der Zukunft der Demokratie in Südafrika nicht von der Hand zu weisen. Die Parteienkonstellation mit dem Übergewicht des ANC ist eine Folge des Kampfes gegen die Apartheid. Vor allem die National Party, die nach der Wahl als einzige andere Partei über ein funktionsfähiges Organisationsnetz verfügte, wird die Schatten ihrer Apartheidvergangenheit so schnell nicht loswerden und ist für die Mehrheit der Bevölkerung unwählbar. Einige taktische Fehler haben nach 1996 zum weitgehenden Zerfall der Partei und ihrer Schrumpfung auf eine regionale Basis im Western Cape, wo sie noch Regierungspartei ist, geführt. Andere kleinere Parteien besitzen entweder nicht die notwendigen materiellen Ressourcen oder es gelingt ihnen nicht, die Gloriole der Befreiungsbewegung durch Sachprogramme wettzumachen und dadurch konkurrenzfähig zu werden. Behauptungen, dass die südafrikanische Demokratie zwangsläufig in einem Einparteienstaat ihr Ende finden werde, nur weil dies in anderen afrikanischen Ländern so geschah, entbehren jeder wissenschaftlichen Grundlage. Denn Südafrika unterscheidet sich von vielen anderen afrikanischen Ländern durch die viel weiter entwickelte industrielle Grundlage und durch seine komplexere Gesellschaftsstruktur. Aus diesem Grund lassen sich, ohne großen und dauerhaften wirtschaftlichen Schaden anzurichten, die unterschiedlichen gesellschaftlichen Subsysteme nicht einfach einer neu entstandenen politischen Elite unterwerfen.
 
Kritische Öffentlichkeit
 
Südafrika hat das, was in vielen anderen Ländern nur fragmentarisch ausgebildet ist, nämlich eine kritische Öffentlichkeit, eine civil society. Der ANC, das wird oft ausgeblendet, war keineswegs die einzige Widerstandsorganisation und er war und ist keine monolithische Bewegung. Es gab den Exil-ANC, der derzeit die politischen Positionen besetzt hält, aber auch den Inlandsflügel. Die United Democratic Front (UDF), eine der Hauptträgerinnen des Widerstands gegen die Apartheid, war ein Dachverband von mehr als 700 unterschiedlichen Organisationen; auch wenn die UDF sich zu Anfang der 1990er-Jahre selbst auflöste, bestehen ihre Mitgliedsorganisationen fort. Die Kirchen waren und sind unabhängig und verstanden sich immer auch als Teil der kritischen Öffentlichkeit. Die prominente Rolle von Kirchenvertretern wie Erzbischof Desmond Mpilo Tutu oder Allan Boesak belegt dies nachdrücklich. Die Gewerkschaften, deren Dachverband COSATU sich mit dem ANC zu einer Allianz zusammengeschlossen hat, vertreten durchaus ihre eigenen Interessen, und es dürfte zukünftig eher zu einer Trennung vom ANC kommen als zu einem noch engeren Zusammenschluss.
 
Die civic associations, Bürgerkomitees, die während des Ausnahmezustands in vielen Townships die Funktion alternativer Stadtverwaltungen übernommen hatten, werden sich die Früchte ihres Widerstands so wenig von einer neuen Staatselite wegnehmen lassen wie die Schüler- und Studentenorganisationen, die afrikanischen Unternehmer und ihre Verbände, die Schriftsteller und Intellektuellen. Es gibt in Südafrika neben einer kommerziellen Sensationspresse auch eine kritische Öffentlichkeit in Gestalt unabhängiger Medien: Zeitungen wie die Weekly Mail and Guardian, deren Reporter und Redakteure über Jahre hinweg oft beträchtliche persönliche Risiken eingegangen sind, um eine Informierung der Öffentlichkeit zu gewährleisten; ein in öffentlich-rechtliche Trägerschaft übergegangenes ehemaliges Staatsfernsehen; Video- und Filmprojekte in den Townships; eine Vielzahl von Radiostationen. Bislang hat der ANC keinen Versuch unternommen, sich die Verbände und Interessengruppen zu unterwerfen. Eine Garantie für eine demokratische Zukunft ist dies freilich nicht. Ein wirtschaftlicher Verfall, wie er durch anhaltende Kriminalität und ausbleibende Investitionen ausgelöst werden kann, ist in der Lage, der Pflanze Demokratie die Wurzeln abzuschneiden.
 
 Die neue Identität Südafrikas
 
Von der europäischen Außenperspektive her stellte sich der ANC lange Zeit primär als eine revolutionäre Befreiungsbewegung dar, die auf eine neue wirtschaftliche Ordnung abzielte. Dabei wurde oft übersehen, dass die Organisation nicht von ungefähr African National Congress heißt, deren Name Programm ist. Nicht nur Mandela begann seine politische Tätigkeit als afrikanistischer Nationalist, der einen vagen Kulturnationalismus mit der Forderung nach Bürgerrechten zu einer eigentümlichen Mischung verband. Auch heute noch empfindet er, wie seine Autobiographie an vielen Stellen enthüllt, in erster Linie als Nationalist. Nicht umsonst ist er nun der große Integrator, der Versöhner, der mit bewundernswertem diplomatischem Geschick seine größten Gegner in Kompromisse einzubinden vermag. Das Verhältnis des Nationalismus zur Demokratie ist keineswegs problemfrei, denn während ein Nationalismus, wie ihn der ANC propagiert, innergesellschaftliche Harmonie anstrebt, lebt Demokratie von der gewaltlosen Austragung von Konflikten und der Verfolgung von Interessen, vom Pluralismus der Meinungen. Hier ist ein Widerspruch angelegt, der sich unter bestimmten Umständen in der Form der Ausgrenzung gegnerischer Gruppen als »unnational« manifestieren kann.
 
Die visionäre Benennung des südafrikanischen Volkes als eine Regenbogen-Nation wird Erzbischof Tutu zugeschrieben. Diese Herkunft der Bezeichnung ist angesichts ihrer theologischen Implikationen viel sagend. Der Regenbogen ist in einer mehrheitlich christlichen Gesellschaft wie der südafrikanischen sicherlich ein eminent aussagestarkes Symbol der Versöhnung, da es den göttlichen Segen, der über dem neuen Projekt der Nationbildung liegt, suggeriert. Mit seinen gleitenden Übergängen zwischen den Spektralfarben macht er den Abschied vom ethnisch-rassischen Schubladendenken der Apartheidjahre sinnfällig. Dasjenige, was früher schicksalentscheidend war, nämlich die Hautfarbe des Einzelnen, wird zu einer rein ästhetischen Qualität, die durch die Vielfalt der Abstufungen nur gewinnt.
 
Widerspruch zwischen Nationalismus und Demokratie?
 
Der Prozess der Nationbildung bedarf der Willensanstrengung aller, Versöhnung ist seine Voraussetzung; ihr soll auch die Aufarbeitung der Apartheid-Vergangenheit durch die Wahrheits- und Versöhnungskommission unter Vorsitz Tutus dienen. Nelson Mandelas Geschick, mit genau kalkulierten symbolischen Gesten seinen Versöhnungswillen zu bekunden, ist ein wichtiger und notwendiger Beitrag zum Abbau innergesellschaftlicher Spannungen. Doch lässt sich fragen, ob das primäre Ziel die Begründung einer nationalen Identität sein muss, die sehr schnell auch in Arroganz gegenüber den ärmeren Nachbarstaaten abgleiten kann. Die grassierende Fremdenfeindlichkeit in Südafrika ist ein Hinweis darauf, zu welchen, durchaus unbeabsichtigten, Resultaten ein neuer Nationalismus führen kann. Fraglich ist auch, ob sich die Nationbildung tatsächlich auf den politisch-konstitutionellen Prozess einer neuen Identitätsbildung beschränken lässt und sich nicht zwangsläufig eine hegemoniale Kulturform in den Mittelpunkt schieben wird. Damit würden Ängste und Reaktionen bei kulturnationalistischen Weißen geschürt. Wachsender Unmut innerhalb der NP und der Rückzug de Klerks aus dem politischen Leben im September 1997 sind darauf zurückzuführen.
 
Dient die Nationbildung nicht in erster Linie dazu, Brüche in der Gesellschaft, Antagonismen und Interessengegensätze zu übertünchen, eine Harmonie zu beschwören, die keine reale Grundlage haben kann? Die Gefahr ist gegeben, dass Nationalismus und Demokratie, die derzeit noch als Geschwister erscheinen, in Zukunft in Widerspruch zueinander geraten.
 
Im Wiederaufbauprogramm findet sich eine enge Verbindung von Wohlfahrtsprogramm und Nationalismus. Die Einheit der Nation als Solidargemeinschaft wird beschworen, der Staat hat für möglichst große soziale und wirtschaftliche Chancengleichheit einzutreten. So berechtigt diese Programme sind, ihre Verbindung mit dem Nationalismus legt die Möglichkeit zur Ausgrenzung all derjenigen an, denen man bei einem Scheitern der Programme mangelnde Kooperationsbereitschaft vorwerfen kann. Dem ANC ist es gelungen, sein Programm der Nationbildung mit dem Ruf nach sozialer Gleichheit in einer Weise zu verbinden, dass die nationale Erfüllung erst mit dem »besseren Leben für alle« erreicht sein kann, mit dem der ANC 1994 um Stimmen warb. Damit besteht aber gleichzeitig die Gefahr, ökonomische Programme mit Gesinnung so zu verknüpfen, dass abweichende Meinungen durchaus als unnational diffamiert werden können.
 
Das Jahr 1994 erweist sich als die entscheidende Wende in der jüngeren Geschichte Südafrikas. Ob das Experiment von Demokratie und Wohlstand gelingen wird, ist nicht vorhersagbar, aber die Weichen sind im Wesentlichen in die richtige Richtung gestellt. Wenn Südafrika den wirtschaftlichen Aufschwung herbeiführen kann, wird es auch eine entscheidende Rolle als ökonomische »Lokomotive« für die gesamte Region spielen und in bedeutendem Maße beitragen können zur Selbstbefreiung Afrikas aus seiner langen wirtschaftlichen und politischen Krise.
 
Dr. habil. Christoph Marx
 
Grundlegende Informationen finden Sie unter:
 
Südafrika: Apartheid in Südafrika
 
 
African National Congress: The reconstruction and development programme. A policy framework. Johannesburg 1994.
 Dickow, Helga: Das Regenbogenvolk. Die Entstehung einer neuen civil religion in Südafrika. Baden-Baden 1996.
 Kehler-Maqwazima, Johanna: »Es ist nicht einfach, eine Frau zu sein!« Porträts schwarzer Frauen aus Südafrika. Frankfurt am Main 1994.
 Nicol, Mike: Plötzlich ein freies Gefühl. Südafrikas Aufbruch in die Gegenwart. Aus dem Englischen. Reinbek 1995.
 Sparks, Allister: Morgen ist ein anderes Land. Südafrikas geheime Revolution. Aus dem Englischen. Berlin 1995.
 Wilson, Francis / Ramphele, Mamphela: Uprooting poverty. The South African challenge. New York u. a. 1989.

Universal-Lexikon. 2012.

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